Sie sind nach Köln gekommen, um zu bleiben. Die mancherorts etwas raue und sympathisch ehrliche Stadt am Rhein versteht ihr rebellisches Anliegen, verkrustete Strukturen in der Sterne-Gastronomie aufbrechen zu wollen. Sonja Baumann und Erik Scheffler vom NeoBiota Köln als gastronomische Systemsprenger zu betiteln, hätte dem eingespielten Duo vor ein paar Jahren noch sehr geschmeichelt. Mittlerweile gehen die Bonnerin und der Chemnitzer etwas moderater und „weniger anarchisch“ mit ihrem Gegenstrom-Dasein um.
Als die „Neobiotas“ (Fremdgewächse) 2018 ihr gleichnamiges Restaurant in Köln eröffneten und schon ein Jahr später einen Guide Michelin-Stern bekamen, war dies ein weiterer Anreiz vieles so ganz anders zu machen als branchenüblich. Das klassische Gebaren und der Hype rund um die Sterne, war ihnen zu starr geworden. NeoBiota, der aus der Biologie kommende Restaurantname für Fremdgewächse, ist bereits ein Statement. Ähnlich wie sich ein japanischer Knöterich in deutschen Wäldern ausbreitet, hat das Ausnahme-Duo im Kosmos der Sterne-Restaurants seine eigene Art von Gastronomie-Konzept entwickelt – nicht ohne invasiven Krawall und eine ordentliche Portion Pioniergeist. Bei der Eröffnung ihres gemeinsamen Restaurants half die feine Zunge, aber auch ein warmes Gefühl von Wut im Bauch. „Wir mussten mit unserer Einstellung zur Branche schon immer gegen so einige Windmühlen kämpfen“, sagt Erik Scheffler, der den Ruf hat recht dickköpfig zu sein: „In den vergangenen zehn Jahre hat sich in der Gastronomiewelt zwar viel getan, aber vielerorts ist immer noch zu ausbeuterisch.“ Im Apostel- Viertel in Kölns Innenstadt sind sie heimisch geworden und leben jetzt ihren Traum von einem etwas anderen Fine-Dining-Konzept – hemdsärmelig und unprätentiös serviert: mit kulinarischem Höchstanspruch.
Ziemlich beste Freunde
Kennengelernt hatten sich die beiden „besten Freunde“ – nein, sie sind kein Paar – vor neun Jahren über einen Job, der bereits einen Paradigmenwechsel konturierte.
Nachdem die gebürtige Bonnerin bereits seit sechs Jahren in einem Guide Michelin-besternten Restaurant im Raum Köln gearbeitet hatte – und den Poste der Sous Chefin innehatte, kam Erik Scheffler als weiterer Sous Chef hinzu. Nach dem schnellen Abgang des damaligen Küchenchefs entschied sich die Geschäftsführung für eine Doppelspitze. Grundsätzlich eine nachvollziehbare Entscheidung, bot das Restaurant doch fünf Tage die Woche Gourmet-, sieben Tage Bistrogeschäft, mit je zwei Services täglich, plus Golfclubverpflegung und regelmäßigen Caterings an: Ein auch für erfahrene Küchenchefs extremer Arbeitsaufwand.
„Ich sollte trotz weniger Erfahrung im Unternehmen direkt mehr verdienen als Sonja. Dies hatte aber sicherlich mit der klassischen Gender Paygap zu tun, aber trotzdem stand für mich außer Frage, dass wir uns den Chefposten auf Augenhöhe und gleichberechtigt teilten“, erzählt Scheffler. Eine solche Konstellation war in der deutschen Spitzenküche zu dieser Zeit bis dato wohl einmalig. Heute gibts schon deutlich mehr Chef-innen in Deutschlands (Casual-) Fine Dining-Szene. Der Job galt mit all seinen veralteten Leistungsdogmen physisch als zu hart für weibliche Besetzung. Nach zwei Jahren Zusammenarbeit war beiden klar: ein eigenes Restaurant musste her.
Stern – unpoliert und ohne Spießertum
Sie eröffneten das NeoBiota nonkonform und etwas anarchisch nach ihren eigenen Vorstellungen und bekamen nach nur neun Monaten den Stern. Was war anders?
Erst mal gibt’s ein paar lockere Sprüche mitserviert: „Löffel rein, glücklich sein!“ oder „Einfach mal lecker machen!“ sind so Easy-Peasy-Apelle. Es gilt: Come as you are. „Bei uns gibt’s weder Dresscode noch gestärkte Tischdecken. Wir duzen die Gäste und die Köche kommen zum Servieren und Erklären auch mal an den Tisch. Im Hintergrund läuft eine Playlist mit klassischen Metal-Hits der 70er Jahre bis heute. Man soll sich mitreißen lassen und die Welt kurz mal vergessen“, so Chefin Baumann, die keinerlei Abgrenzungen durch den Stern bei den Gästen erzeugen will. „Es geht um den Austausch von guter Energie, da passen keine Dogmen oder schicke Allüren rein“, fügt Erik hinzu.Er ist sich aber dennoch bewußt, dass sie mit ihrer neobiotischen Idee von modernem Gastgebertum gleich einige der klassischen Sterne-Gäste vergrault haben.
Dafür sei eine breitere Klientel jeder Altersgruppe, sowie viele „Sterneungeübte“ – dazu gekommen: „Wir möchten eine besondere und aromenstarke Küche in einem Wohlfühlraum bieten.“ Das spürt man: denn Team und Gast werden hier wie eine große Familie behandelt. Das ist den beiden neben der Vielfalt und Qualität auf dem Teller das allerwichtigste. Tradition und Innovation sollen gleichberechtigte Impulsgeber sein.
Erik und Sonja – zwei wie Tag und Nacht
Das besondere Food-Konzept der Neobiotas ist das tägliche Zeit- und Raum-Splitting in Frühstück und Sterne-Dinner. Eine perfekte Spiegelung ihrer Charakter. Früher haben sie sich alles aufgeteilt, jetzt trennen sie ihre Bereiche etwas stärker, bleiben aber trotzdem involviert in alle Abläufe. Erik mag seine Küche aufgeräumt mit klar strukturiertem Ablauf. Privat sei er zwar eher der „Neonerd“ mit Hang zu Popkultur, Comic-Superhelden und Streetart. Diese bunte und verspielte Seite an ihm fließe aber auch in seine Küche ein. Sonja will einfach nur machen – am liebsten koche sie intuitiv-freestyle und ohne Rezept. Da passe es besonders gut, dass das Frühstück à la carte sei, da wisse man morgens nie, was einen bei den Bestellungen erwarte.
Das frühe Stück Glück im NeoBiota Köln
Zwischen 10:00 – 15:00 Uhr gibt es im „Kulinarik-Tempel mit Understatement mitten in der Kölner Innenstadt alles, „außer abgestandenen Standard-Brunch“. Sonja Baumann kredenzt Frühstück auf Sternelevel – aber ohne Stern. Ihre Liebe zur Natur und die Begeisterung für skandinavische Länder prägt ihre kulinarische Handschrift: „Frühstück ist bei uns das neue Mittagessen. Spätaufsteher oder Mittagspausenfrühstücker sind bei uns willkommen. Von herzhaft, süß, warm oder kalt findet sich alles à la Carte und als 3-Gang Menü. Auch altbekannte Frühstücksklassiker wie Bircher-Müsli, frisch gebackene Zimtschnecken oder Shakshuka (würziges Tomatenrührei) werden im NeoBiota kreativ interpretiert.
Wenn schon Stulle dann bitte dick und lecker belegt. Zwei Signatures sollten probiert werden: Die saisonal-regionale Hommage an die neue Heimat Köln in Form des “Armen Jan” – basierend auf einer Liebesgeschichte aus dem 30-jährigen Krieg, als French Toast mit „Himmel un Ääd“ serviert und mit Majoran und Apfel verfeinert. Ein must taste sind die Pancakes – in einer fluffig japanischen oder kompakt amerikanischen Variante mit Apfel-Birne-Cranberry-Kompott, Joghurtschaum und Granola.
„Wir haben nichts dagegen, wenn unsere Gäste das verfeinerte Frühstück zu Hause nachkochen wollen und haben deswegen ein Buch geschrieben, in dem wir zeigen, dass „Brunch tot ist.“ Das ist auch Titel des Buchs, sagt Sonja stolz.
Das späte Stück
Der Stern blinkt ohne übermäßig zu funkeln offiziell dann abends im Sternerestaurant. Hier experimentiert Erik mit neuen Aromen-Kombinationen – das Spiel zwischen Säure und Schärfe ist seine große Leidenschaft. Gegensätze bringen Spannung. Wobei das Gericht trotzdem immer harmonisch und ausbalanciert bleiben sollte. Seine kulinarische Handschrift fand der Chemnitzer in einigen der besten 3-Sterne-Restaurants Londons und Deutschlands, in denen er gelernt hat.
„Wir versuchen den Gast geschmacklich etwas entdecken zu lassen, was er aromatisch oder textuell noch nicht kennt. Ein Beispiel dafür ist die wie Jasmin anmutende Süße von Robinien-Blüten, Rauchfischsauce oder eine deftige vegetarische Stopfleberalternative auf Sonnenblumenbasis“, so Erik, dessen Spektrum sich zwischen vegetarisch, vegan, pescetarisch und omnivore bewegt. Interessante Alternativen zu Fisch und Fleisch werden ausklamüsert. Bei den vegetarischen Plates wird oft nur eine Komponente ausgetauscht, so haben alle Gäste das gleiche Gericht auf dem Teller. „Bei uns sind immer alle Regler auf Vollgas. Wir liefern den Mix aus Intuition, Feuer, Adrenalin, Aktion und kleinen Überraschungen.“ Eine davon schickt das NeoBiota Team als süß-sauren Gruß aus der Küche. Der Zwischengang „Wikinger Müsli“ – Kartoffelpüree, eingelegte Gurken und Forellenkaviar (Vegetarisch mit Algenkaviar) treffen auf ein Topping aus krosser Fischhaut (vegetarisch mit Kartoffelchips), Meerrettichschaum und grob geriebenem Dill.
Am liebsten richten die Sterneköche ihre Kreationen in „morbiden, nicht Insta-kompatiblen Haufen“ an, die scheinbar wahllos, natürlich und somit auch irgendwie nahbar auf den Tellern landen. Manch feiner Dish wird so einfach in einer Schüssel zum Auslöffeln serviert. So könne man das ganze Spektrum an komplexen Aromen, Temperaturen und Texturen besser erfassen. Die Weine kommen im NeoBiota ausschließlich von jungen Winzern und kleinen Weingütern. Sommelier Volker Arndt serviert neben weinkennerhaften Tropfen auch ein rein alkoholfreies Pairing mit „aromatischem Feinsinn“.
Pflanzliches findet sich in jedem neobiotischem Gericht. „Gemüse ist unser Normal. Durch unterschiedlichste Gar-, Fermentations- und Konservierungsmethoden wie dem Einlegen und Marinieren wird Saisonales und selbst Gesammeltes haltbar gemacht. So erschaffen wir unkonventionelle Geschmacksbilder, die Erinnerungen schaffen“, sagen Sonja und Erik, die natürlich auch jeden ihrer Lieferanten im Radius von 400 km kennen.
Nachhaltig nachgedacht
Nachhaltigkeit und soziales Engagement bestimmen die tägliche Arbeit im NeoBiota so wie das Root to leaf: die ganze Pflanze, von der Wurzel bis zum Blatt zu verarbeiten, für einen minimalen Waste. Gemüse und Früchte kommen von regionalen Produzenten. Kurze Lieferketten und Nachhaltigkeit sind genauso ein Muss, wie zukunftsorientierte und ökologische Anbaumethoden. Eine international inspirierte und regional interpretierte Küche solle aber auch konsequent zu Ende gedacht werden. Wer beispielsweise Fisch wie die blauen Garnelen aus Aquazucht aus Bayern beziehe solle bedenken, dass die Setzlinge regelmäßig eingeflogen werden. Das brauche viel C02 und sei am Ende reines Marketing. Natürlichkeit und stetiges Hinterfragen alter Strukturen sind für Baumann und Scheffler der Weg in eine bessere, ökologische Zukunft.
Das gute Miteinander auf Augenhöhe
Für das gesplittete Doppelkonzept braucht es Personal: Das sind – mit den Chefs – acht Köche und zehn Kellner – vornehmlich bei einer Viertage-Woche. Wichtig seien ihnen feste Schlusszeiten für die Lebensplanung. „In der Gastronomie gab es über Jahrzehnte undankbare Ausbeutung. Wir zahlen gut, aber vor allem evaluieren wir ständig das Verhalten auf Augenhöhe im Gastraum. Dafür besprechen wir uns mit unserer Restaurantleiterin Hanna. Sie ist unser Draht zum Gast.“
Sharing sollte Usus werden
Das NeoBiota in Köln kooperiert mit dem Verein Straßenwächter e.V. und kocht einmal wöchentlich für an die 150 Bedürftige und Obdachlose in Köln. Auch die Lieferanten vom Großhandel ziehen mit und geben abgeschriebene Lebensmittel in die Shairingbox mit hinein. „Am Anfang haben wir die Lunchpakete selbst zu verteilen versucht. Das haben die Bedürftigen leider durch schlechte Erfahrungen nicht angenommen. Sie sind so dramatisch in der sozialen Verarmung angekommen, dass sie von der Umwelt nicht mehr wahrgenommen werden.“ Das wollen die beiden Gastronomen ändern und andere mitziehen. Zu Weihnachten gibt es jährlich ein großes Seniorenessen in der Diakonie. Oft haben die Menschen dort keinen Familienanschluss mehr. „Wir könnten deutlich mehr Geld haben, sind aber lieber ideologisch,“ so das Duo, das auch in einigen TV-Formaten wie bei der Sendung „Am Pass“ oder „Ready to beef“ – oder beim „Snackmaster“ ihre Statements vermittelt.
Heute genießen Sonja Baumann und Erik Scheffler den Wind of Change in der Branche, zu dem sie als Gegenstrompioniere sicher ihren Teil beigetragen haben. Und sie haben Erfolg mit der Nonkonformität: seit 2022 sind sie neben ihrem Stern auch unter den „100 Best Chefs Germany“. Eine schöne und verdiente weitere Medaille, die sie unpoliert auf ihre Art am Revers tragen.
restaurant-neobiota.de | Ehrenstraße 43c, Ecke Große & Kleine Brinkgasse | Dienstag – Samstag | 10 – 15 Uhr Frühstück | 19 – 23 Uhr Dinner
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