Am 16. Juni feiert das Stück „INES“ der Regisseurin Katharina Schmitt und des Komponisten Ondřej Adámek an der Oper Köln Premiere: Ein junger Mann, eine Frau, die an einer ungeklärten Krankheit stirbt, von fremden Stimmen besessene Figuren – eine Liebesgeschichte und die Welt nach einer Atomkatastrophe. Wir haben die Librettistin und Regisseurin im Vorfeld getroffen und mit ihr darüber gesprochen, warum der Orpheus-Mythos wieder aktuell ist und wie Schatten klingen.
Kannst du kurz zusammenfassen, worum es bei “INES” geht und erklären, wie es zu dem Namen gekommen ist?
„INES“ ist eine Oper, die ich mit dem Komponisten Ondřej Adámek entwickelt habe. Es handelt sich dabei um eine Orpheus-Eurydike-Bearbeitung, die nach einer atomaren Katastrophe spielt. Diese Katastrophe tötet die Eurydike Figur, während die Orpheus Figur überlebt. Die eine Figur befindet sich im Reich der Toten, die andere unter den Lebenden und sie verpassen sich ständig. Motor der Handlung ist der Versuch, miteinander zu sprechen, der immer wieder scheitert.
Formaler Ausgangspunkt für das Libretto, der sich durch das Stück zieht, ist die INES-Skala (International Nuclear and Radiological Event Scale) zur Messung sicherheitsrelevanter Folgen bei nuklearen Unfällen.
Warum gerade jetzt ein Stück über die Liebe inmitten der nuklearen Katastrophe?
Das hat einerseits damit zu tun, dass sich Ondřej Adámek und ich uns für die Verbindung von Stimme und Trauma interessieren. Ich habe eine klassische Theaterausbildung und arbeite als Dramatikerin und Regisseurin. Wenn ich für Sprechtheater schreibe, ist es ein anderer Prozess, als für die Oper zu schreiben. Bei letzterem fragt man sich schon: Warum sprechen die Protagonist*innen nicht, warum singen sie? Eine Möglichkeit der Antwort wäre das Verhältnis von Trauma und Stimme in der Art, dass etwas aus den Körpern singt. Das ist der Bereich, der Ondřej und mich interessiert.
Warum sprechen die Protagonist*innen nicht, warum singen sie? Eine Möglichkeit der Antwort wäre das Verhältnis von Trauma und Stimme.
Katharina Schmitt, Regisseurin und Librettistin
Als wir angefangen haben, zu diesem Stück zu arbeiten haben wir uns gefragt, welches das erste gesellschaftliche Trauma war, an das wir uns erinnern konnten – und das war Tschernobyl. Uns war aber auch klar, dass wir zu Orpheus und Eurydike arbeiten wollten. Ich habe dann recherchiert und versucht herauszufinden, inwieweit sich atomare Zwischenfälle, nukleare Katastrophen aber auch den Einsatz nuklearer Waffen mit dem Orpheus Stoff verbinden lassen. Bei der Recherche stieß ich auf das Friedensgedächtnismuseum Hiroshima. Dort gibt es eine Fotoserie, die zeigt, wie die Menschen wie Schatten eingebrannt waren in den Boden. Ovid wiederum, einer der ersten Quellen zum Orpheus Mythos, schreibt über Eurydike als Schatten. Uns hat das interessiert: Wie klingt ein Schatten und wie manifestiert sich ein Schatten in einem Bühnenzusammenhang?
Andererseits ist das Thema aktuell, weil wir immer häufiger und immer stärker mit Situationen konfrontiert sind, die das protagonistische Prinzip überschreiben und das Konzept des Einzelnen sprengen. Wir sehen uns Katastrophen gegenüber, die für Einzelne nicht zu bewältigen und nicht zu integrieren sind. Darin sehe ich die Relevanz unseres Stoffes.
Andererseits ist das Thema aktuell, weil wir immer häufiger und immer stärker mit Situationen konfrontiert sind, die das protagonistische Prinzip überschreiben und das Konzept des Einzelnen sprengen
Katharina Schmitt, Regisseurin und Librettistin
INES rekurriert auf den Orpheus-Mythos. Orpheus verliert Eurydike an das Reich der Schatten, rettet sie und verliert sie auf dem Weg zurück ein zweites Mal, weil er sich trotz Verbots nach ihr umblickt. Gründet sein Scheitern in seiner Sehnsucht nach ihr, weil er sie lange entbehren musste, oder in seinem menschlichen, allzu menschlichen Ungenügen?
Ich würde sagen, das ist in diesem Fall dasselbe: Orpheus Sehnsucht, seine Unfähigkeit, den Tod zu akzeptieren, ist der menschliche Fehler. In unserer Bearbeitung spielt diese Szene in einem Krankenhaus, bzw. in einem Isolationszelt. Dort wird dem Protagonisten O eröffnet, dass seine Frau, E, die Strahlenkrankheit hat und daran sterben wird. Sie hat nur noch kurze Zeit zu leben und er soll sie in Ruhe lassen. Daraufhin versucht O seine Frau wegzuzerren von diesem Ort und stöpselt sie von allen medizinischen Gerätschaften ab. Erst durch diesen Akt stirbt sie.
Zwischen absoluter Stille und ohrenbetäubendem Lärm, Atomwinter und Hitze, gleißendem Licht und absoluter Dunkelheit singen die Figuren in INES über menschliche Grenzen und die Schwierigkeiten, diese zu überwinden. Wie treibt man so etwas wirkungsästhetisch auf die Spitze? Wie schafft man es dramaturgisch so zu inszenieren, dass es knallt?
Das Stück hat verschiedene Inszenierungsebenen, das Libretto, die Komposition und die Inszenierung. Das Libretto ist so angelegt, dass sich die Hauptfiguren durch diese Katastrophe verändern. Eurydike fällt durch die Katastrophe auseinander. Sie wird von einer einzelnen Protagonistin zu einer Vielheit von Stimmen und es taucht ein Stimmenensemble von Doppelgängerinnen auf, sie wird von einer Solostimme zu einem Echo, das sich im Raum verteilt. Dadurch ist sie als Körper nicht mehr greifbar. Das ist unser Versuch, einen Schatten klingen zu lassen.
Bei der Orpheus-Figur verändert sich die Stimme durch die Katastrophe. Wir haben mit Hagen Matzeit einen Sänger besetzt, der sowohl eine Bariton- als auch eine Countertenorstimme hat. Das heißt, er kann sowohl sehr tief als auch sehr hoch singen. Durch die Katastrophe findet Orpheus eine andere Stimme.
Im zweiten Akt findet die Explosion statt, derart, dass das große Orchester nach und nach auf die Bühne kommt und sich der ganze Raum füllt.
Inszenatorisch arbeiten wir im Visuellen viel mit der INES-Skala und dem fortschreitenden Verstrahlungsgrad. Jeder Raum wird in ein anderes Licht der jeweiligen Warnstufe getaucht, das Fortschreiten der Handlung korrespondiert mit der Giftigkeit der Umwelt.
Wie ändert sich die Musik. Wie trägt Ondřej Adámek dem zunehmenden Verstrahlungsgrad Rechnung?
Wir haben kein chronologisches Libretto, sondern bewegen uns in der Inszenierung, im Libretto und in der Musik durch die Seelenlandschaft von Orpheus, der diese Katastrophe überlebt und traumatisiert ist. Von Traumapatienten kennt man diese immer wiederkehrenden Bilder. Insofern gibt es keine sich chronologisch steigernde Tonspur, sondern eine musikalische Landschaft, durch die sich der Protagonist bewegt, um immer wieder Extreme zu erleben.
Der extremste Moment ist sicherlich die Explosion, was das auf die Spitze treiben angeht, gleichzeitig gibt es einen Chor, der immer wieder einordnet und als kommentierendes Element die Tragik, die die Protagonisten erleben, relativiert. Es geht viel um die Frage der Dauer und die Tragik eines einzelnen Menschenlebens, das sehr kurz ist, versus die unendliche Dauer der Halbwertszeit des verstrahlten Materials.
Im Stück verändern sich die menschlichen Stimmen im Kontext des atomaren Unfalls, gehen verloren und durchbrechen die Zeitachse… Was bleibt von der Nähe, wenn alles zerfällt?
Dadurch, dass wir uns in der Seelenlandschaft von Orpheus bewegen, erleben wir nicht nur die Tragik, sondern auch die schönen Momente mit Eurydike, an die er sich erinnert. Das ist auch ein Grund, weshalb er diese Landschaft nicht verlassen will, denn dort ist der einzige Ort, an dem er seine Geliebte noch treffen kann. Dadurch entstehen auch Momente großer Schönheit.
Wie war denn der Prozess? Ihr könnt mit großem Ensemble und großem Orchester arbeiten und inszenieren. Das ist bei Auftragsproduktionen eher unüblich, oder?
Absolut. Tatsächlich ist das ein großer Vertrauensbeweis der Kölner Oper, vor allem des Intendanten Hein Mulders und des Generalmusikdirektors der Stadt Köln, François-Xavier Roth, dass sie Ondřej und mir die Möglichkeit geben, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Wir haben die Chance, das gesamte Arsenal des Hauses zu nutzen, dieses Interesse an zeitgenössischem Denken in der Oper freut uns sehr und ist wirklich besonders.
Die Uraufführung von INES an der Oper Köln findet am 16. Juni 2024 im Staatenhaus Saal 3 statt. Der Vorverkauf hat bereits begonnen. Karten kosten 35 – 50 Euro. Weitere Termine: 22./26./28. Juni und 3. Juli (letzte Aufführung). Ticket und weitere Infos gibts hier.
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