Das „Ludwig“, wie die Kölnerinnen ihr Museum mit der charakteristischen Wellenarchitektur nennen, beherbergt eine der bedeutendsten Kunstsammlungen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Darunter die größte Pop-Art-Sammlung Europas, die drittgrößte Picasso-Sammlung der Welt, Fotokunst von Weltrang und kapitale Werke der rheinländischen Kunstgeschichte, zum Beispiel Gerhard Richter oder Rosemarie Trockel. Die Sammlung ist Kern der Museumsarbeit und Ausgangspunkt der kuratorischen Praxis. Allerdings: Wo gesellschaftliche und kulturelle Diskurse an Rasanz gewinnen, braucht es neue Rezepte, um den Verwerfungen der Gegenwart zu begegnen. Für die Ausstellungsmacherinnen bedeutet das, neue Perspektiven auf die Sammlung zu eröffnen und die Sammlung selbst zu thematisieren, um blinde Flecken zu erkunden.
Gestern
Dass das Who’s who aus 125 Jahren internationaler Kunstszene in Köln vertreten ist, ist Schenkungen von Kölner Bürger*innen zu verdanken. Den Grundstein legte Josef Haubrich 1946 mit seiner Sammlung expressionistischer Kunst. 30 Jahre später überließen Peter und Irene Ludwig der Stadt große Teile ihrer hochkarätigen Sammlung, zuerst Pop-Art, später Schlüsselwerke der damals sogenannten Russischen Avantgarde und ihren Picasso-Besitz. Damit war eine Sammlung internationaler Spitzenklasse entstanden. Im Gegenzug schuf die Stadt einen eigenen Ausstellungsort, das heutige Museum Ludwig. „Dieses Erbe ist ein unfassbar wertvolles Geschenk“, sagt Museumsdirektor Yilmaz Dziewior, „aber auch eine Herausforderung. Denn ein zeitgenössisches Museum darf nichts Statisches sein, es muss lebendig bleiben. Das braucht Veränderungswillen, auch Risikobereitschaft.“
Ging es in der achten Ausgabe 2022 noch um„Antikoloniale Eingriffe“ und die Untersuchung, inwieweit Künstlerinnen der Klassischen Moderne – in der Regel aus Europa – den exotisierenden Blick auf den globalen Süden reproduzieren, legte die neunte HIER UND JETZT 2023 den Fokus auf die „Ukrainische Moderne 1900–1930“. In dieser hinterfragten die Ausstellungsmacherinnen die Museumsarbeit im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – und falsifizierten einen feststehenden Epochenbegriff der Kunstgeschichte. Denn die als „Russische Avantgarde“ bekannte Phase zwischen 1905 und 1934 lässt sich nicht ohne Künstler*innen wie Alexandra Exter, Wolodymyr Burljuk und Wasyl Jermilov erklären. Die allerdings kamen gar nicht aus Russland, sondern aus der Ukraine.
Hier und Jetzt
Als Yilmaz Dziewior 2015 seinen Job als Direktor antrat, war ihm klar, dass er das Haus „über die engen europäischen Grenzen hinaus öffnen“ müsse, um in der Auseinandersetzung mit Zeitgenössischer Kunst relevant zu bleiben. Dies erfolgt unter anderem in der Reihe HIER UND JETZT, die Dziewior 2016 initiierte und die das Format herkömmlicher Museumsausstellungen verhandelt.

Die zehnte HIER UND JETZT beginnt am 9. März 2024 (bis 13. Oktober) und geht den Spuren der Urzeit auf den Grund. Sie verbindet zeitgenössische und historische Kunst, Geologie, Dendrologie, Archäologie sowie Landschaftsarchitektur. Es wird die erste klimaneutrale Ausstellung des Hauses sein.
Morgen
Nicht erst seit Aktivistinnen Kunstwerke mit Erbsensuppe und Kartoffelbrei attackierten, wird in Museen übers Klima geredet. „Museen sind so etwas wie die Kreuzfahrtschiffe der Kulturbranche“, sagt Miriam Szwast, seit 2013 Kuratorin für Fotografie und seit 2021 zusätzlich für Ökologie am Museum Ludwig zuständig. „Dass wir umdenken müssen, liegt auch am weltweiten Kunsttransport und der Gebäude-Klimatisierung.“ Zudem stehen Museen unter immensem Erfolgsdruck: „Eine Ausstellung jagt die nächste, wir wollen Besucherinnenanzahl und Presseresonanz steigern. Aber nehmen wir uns die Zeit, über grundsätzliche Dinge nachzudenken?“
2021 hat Szwast das Team Nachhaltigkeit gegründet. Die Begrünung des Dachgartens, neue Fahrradständer und LED-Beleuchtung waren erste sichtbare Ergebnisse. Seit 2021 fließt Ökostrom aus der Leitung. HIER UND JETZT #10 ist die Generalprobe für nachhaltiges Ausstellen. Bis 2035 soll das Ludwig komplett klimaneutral sein.

Immer
Genauso, wie Ausstellungen nicht ohne ihren ökologischen Fußabdruck gedacht werden können, erwächst auch aus der Sammlung eine Verantwortung. Die gesellschaftlichen und historischen Entstehungskontexte müssen immer wieder hinterfragt werden. 2018 ließ Yilmaz Dziewior die amerikanischen Bestände des Hauses neu bewerten. Das Ergebnis: Es ist vor allem Kunst von weißen, heterosexuellen Männern. Positionen von Frauen, der LGBTQIA+-Community sowie von Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) kamen eher am Rande vor.
Die Ausstellung „Mapping the Collection“ stellte 2020 dieses Resultat in den Mittelpunkt, um Defizite der Sammlung diskursiv zu problematisieren. „Es geht nicht darum, jemanden auszugrenzen, sondern darum, alle miteinzubeziehen. Vor allem Menschen, deren Geschichten, Stimmen und Perspektiven bislang wenig gehört werden“, sagt Dziewior. Deshalb bietet das Haus heute Führungen auf Türkisch und Kurdisch an. Für Dziewior steht fest: „Diversität hat viele Gesichter, deshalb werden wir immer wieder Neuland betreten müssen. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen.“
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