Köln ist Literaturstadt. Mit aufregenden neuen Stimmen, diversen Themen und unterschiedlichen Herangehensweisen, manchmal sogar inspiriert vom Rhein. Bestsellerbücher, aufwändig gestaltete Bände mit literarischen Miniaturen oder Experimente in Romanform: Die Literatur made in Cologne ist vielfältig. Wir stellen fünf Autor*innen und ihre aktuellen Bücher vor, und so unterschiedlich sie auch sind: ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist Köln.
Melanie Raabe: „Der längste Schlaf“
Mara Lux ist müde, als sie morgens einen Londoner Konferenzraum betritt, um ihren Vortrag zu halten. Aber das macht nichts, denn sie kennt ihren Text im Schlaf, wortwörtlich. Seit einem Jahrzehnt forscht die Wissenschaftlerin zu einem Thema, das alle bewegt. Sie beschäftigt sich mit unseren Schlafgewohnheiten, unseren Alpträumen, kurz, mit der Nachtseite des Lebens. Nach ihrem Vortrag erfährt sie, dass ihre Nachbarin Mrs. Jones aus dem Fenster in den Tod gesprungen ist – und stellt erschrocken fest, genau dieses Ereignis im Traum vorausgeahnt zu haben. Es ist nur eine der vielen beunruhigenden Merkwürdigkeiten in diesem Roman. Denn auf Mara Lux wartet außerdem eine bizarre Mission: Ein ihr unbekannter Mann schenkt ihr ein Herrenhaus in Deutschland. Und damit beginnt die eigentliche Reise durch Tag und Nacht der menschlichen Seele. Melanie Raabe ist Kölner Bestsellerautorin – und das nicht ohne Grund: In „Der längste Schlaf“ verbindet sie erneut literarische Spannung mit akribischer Recherche. Und das Ganze auch atmosphärisch dicht. Auf keinen Fall zum Einschlafen.
Melanie Raabe, Der längste Schlaf. btb Verlag, 24 Euro.
Giulia Becker: „Wenn ich nicht Urlaub mache, macht es jemand anderes“
Das ist doch mal ein angemessener Wunsch: Die Erzählerin möchte in Köln beerdigt werden, und vorher soll es eine riesige Trauerfeier in den Deutzer Messehallen geben. Klar, dass ausgerechnet die Oberbürgermeisterin ihre opulent gefertigte Urne tragen soll, mit einem „Propellerhut aus Keramik“ und den wichtigsten Kölner Verkehrsknotenpunkten als Zierrat auf dem Gefäß. Schon zu Beginn von Giulia Beckers gesammelten Kurztexten erwartet uns der Tod. Und der wird so komisch, grotesk und beiläufig zelebriert wie alle anderen Alltagserlebnisse der Autorin. Immer wieder kommt Becker dabei zu erstaunlichen Erkenntnissen, gerade auch die Stadt Köln betreffend: „In Köln wohnen drei Millionen Autos, dazwischen parken eine Million Menschen.“ Die Autorin, Moderatorin und Musikerin wurde bekannt durch Jan Böhmermanns „Neo Magazin Royale“ und arbeitet sich an Traum und Trauma von Floh- und Elektrofachmärkten ab, unternimmt Wanderungen und schreibt sogar ein kleines Libretto als Ode an die Barista-Kunst. Glaubhaft abgründig, unglaublich komisch.
Giulia Becker: Wenn ich nicht Urlaub mache, macht es jemand anderes. Rowohlt Buchverlag, 22 Euro.
Jasmina Kuhnke: „White Lives Matter“
Eine junge Frau darf studieren, und das ist für sie eine ziemliche Leistung: Sie ist die Erste aus ihrer Familie, die überhaupt Zugang zu akademischer Bildung bekommt. Anna, so heißt die Protagonistin, hält an der Uni den Ball flach, denn sie weiß genau, was es heißt, diskriminiert und von einer Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, in der Rassismus gang und gäbe ist. „Sie fiel ohnehin auf“, heißt es im Buch, „da brauchte sie nicht auch noch mit ihrem Verhalten die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“ Der Grund für Annas Zurückhaltung: ihre Hautfarbe: Denn Anna ist weiß. In einem außergewöhnlichen literarischen Experiment kehrt die Kölner Schriftstellerin und Aktivistin Jasmina Kuhnke die Vorzeichen einfach um: Die Ausgrenzung trifft in ihrem Roman die Weißen. Und die Studentin Anna gibt, auch durch den gewaltsamen Verlust ihres Bruders, ihre Zurückhaltung auf und engagiert sich für die titelgebende „White Lives Matter“-Bewegung. Ein radikales Buch, das die gesellschaftlichen Umstände durch die konsequente Umkehrung der Gegebenheiten ausleuchtet. Ein kraftvolles Plädoyer für Antirassismus.
Jasmina Kuhnke: White Lives Matter. WeCreate Books, 24 euro.
Alexander Estis: „Das Rondell. Geschichten von Menschen auf Kölner Straßen“
Der Schweizer Autor Alexander Estis war auf den Straßen von Köln unterwegs – und erzählt in „Das Rondell“ Geschichten von Leuten, die sonst kaum Gehör finden. Aus Interviewmitschnitten hat er literarische Miniaturen gemacht, feinfühlige und ehrliche Porträts von Kölner*innen und ihrem Schicksal. Es geht um Armut und Drogen, aber auch um kleine und große Gefühle von Glück. Während seines Veedelsschreiber-Stipendiums entstand bei Alexander Estis nach Gesprächen mit ehemaligen Obdachlosen im Breuerpark in Köln-Kalk die Idee zu „Das Rondell“. Daraus geworden ist eine Kölner Stadtbegehung der anderen Art, eine Hommage an die marginalisierten Menschen der Millionenstadt, deren Erzählungen sonst untergehen. Erschienen ist das Buch übrigens in der Kölner parasitenpresse, ein Verlag, der sich seit dem Jahr 2000 ungewöhnlichen und herausfordernden Buchprojekten widmet. Für ihre herausragenden verlegerischen Verdienste ist die Kölner „parasitenpresse“ kürzlich sogar ausgezeichnet worden: Als einer von drei Spitzenpreisträgern erhielt der Kölner Verlag den mit 50.000 Euro dotierten Spitzenpreis beim Deutschen Verlagspreis.
Alexander Estis: Das Rondell. Geschichten von Menschen auf Kölner Straßen. parasitenpresse, 12 Euro.
Jürgen Becker: „Nachspielzeit“
Schon zu Beginn macht Jürgen Becker deutlich, worum es ihm geht: „Zeit vorbei, kein Warten mehr; fürs Nachspiel laufen die Vorbereitungen.“ Und so wirkt „Nachspielzeit“ in der Tat wie ein Rückblick auf ein Leben – und zugleich wie eine an der Vergangenheit geschulte Betrachtung der Gegenwart: Erinnerungen an Kriegserlebnisse spielen ebenso eine Rolle wie die sezierend genauen Beobachtungen der Vorgänge im eigenen Garten. Das alles mit leisem Humor und in einer ebenso zurückgenommenen, minimalistischen Sprache. Selbst wenn man ansonsten wenig mit Lyrik anfangen kann: Jürgen Beckers Poesie entwickelt einen Sog, weil sie so detailreich, melancholisch und eindringlich vom Alltag erzählt. Im vergangenen November, wenige Monate nach dem Erscheinen von „Nachspielzeit“, ist Jürgen Becker mit 92 Jahren in seiner Heimatstadt Köln gestorben. Er war der vielleicht berühmteste und prägendste Kölner Gegenwartsschriftsteller, 2014 wurde ihm für sein dichterisches Werk der Georg-Büchner-Preis verliehen. „Nachspielzeit“ ist somit auch zu einem literarischen Vermächtnis geworden – und zu einer bleibenden Erinnerung an den wichtigen Kölner Dichter.
Jürgen Becker: Nachspielzeit. Sätze und Gedichte. Suhrkamp Verlag, 24 Euro.
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